Ambulante Pflege
Als Caritas-Verband für den Main-Kinzig-Kreis sind wir Träger eines ambulanten Pflegedienstes in Bad Soden-Salmünster und eines ambulanten Pflegedienstes in Freigericht. Zusammengerechnet versorgen unsere engagierten Mitarbeiter*innen rund 450 Pflegebedürftige in ihrem Zuhause. Welche Herausforderungen damit verbunden sind, wie sich der herrschende Pflegenotstand dabei bemerkbar macht und an welchen Stellen großer Handlungsbedarf besteht, verrät uns Roswita Herpel im Interview. Die examinierte Krankenschwester kennt die Pflege sowohl von der praktischen als auch von der bürokratischen Seite. Seit mehr als 20 Jahren ist sie Pflegedienstleiterin in der Sozialstation St. Josef in Bad Soden-Salmünster.
Frage: Wie würden Sie den Arbeitsalltag in der ambulanten Pflege beschrieben?
Herpel: Unsere Arbeit ist ausgesprochen Vielseitig und mit einem hohen Maß an Verantwortung verbunden. Alles aufzuzählen würde hier sicherlich den Rahmen sprengen. Grundsätzlich kann man die Aufgaben aber in zwei Hälften aufteilen: Die organisatorische Seite, um die ich mich als Pflegedienstleitung intensiv kümmere, und die Arbeit direkt am Patienten. In Bad Soden-Salmünster versorgen wir dabei bis zu 250 Menschen täglich. Dafür haben wir morgens elf Frühdiensttouren, die alle unterschiedlich beginnen und enden. Denn in der häuslichen Pflege ist der Patient derjenige, der den Rhythmus bestimmt: Er bestimmt, was er möchte, was er erwartet und was er braucht. Dabei gibt er auch Wunschzeiten an, zu denen unsere Pflegekräfte zu ihm kommen sollen. Bei elf Touren und bis zu 250 Patienten ist es dann schon eine Kunst, diese Touren so zu planen, dass sie sowohl wirtschaftlich sind, als auch den Patientenwünschen entsprechen.
Frage: Wie läuft die Pflege der Menschen ab, haben Sie hier immer ausreichend Zeit?
Herpel: Die ambulante Pflege ist sehr eng getaktet. Natürlich sind wir im Kopf und im Herzen so eingestellt, dass wir gerne unbegrenzt Zeit für unsere Patienten hätten. Aber es muss auch wirtschaftlich bleiben. Aus diesem Grund sind alle unsere Mitarbeiter*innen auch in Hinblick auf kostenbewusstes Denken und Handeln geschult. Ein gewisser Spielraum in der Pflege ist aber trotzdem nötig. Wir arbeiten ja mit Menschen! Und die Tagesform ist bei keinem Patienten jeden Tag gleich gut. Geht es dem Patienten schlecht, kann es auch einmal länger dauern. Hier nach Ablauf der von den Kassen vorgegeben Pflegezeit einfach zu gehen, würde nicht unserem Verständnis als Caritas-Verband entsprechen.
Frage: Sie haben 1975 mit ihrer Ausbildung zur Krankenschwester begonnen und können auf entsprechende Berufserfahrung zurück blicken. Wie würden Sie sagen, hat sich die Pflege im Laufe der Jahre verändert?
Herpel: In den vergangenen 15 Jahren hat sind wir zum Dienstleister geworden. Und das meine ich leider nicht im positiven Sinne. Man kann sehr deutlich spüren, dass sich die Anspruchshaltung und die Erwartungen uns gegenüber deutlich verändert haben. Die Art und Weise, wie mit uns Pflegekräften umgegangen wird, ist mitunter sehr unschön.
Frage: Wie hat die Pandemie den Alltag in der ambulanten Pflege verändert?
Herpel: Wir müssen eine sehr hohe Achtsamkeit haben, uns streng nach den AHA-Regeln verhalten. Dabei müssen wir auch immer wieder unsere Patienten überzeugen, mitzuziehen. Wir haben einen Versorgungsvertrag mit den Patienten. Wenn einer von ihnen positiv auf das Corona-Virus getestet wird, müssen wir ihn trotzdem weiter versorgen. Dann gehen Sie mit voller Vermummung zu ihm: Mit Kittel, Haube, Maske und Visier. Und dann arbeiten Sie einmal so. Die Mitarbeiter*innen sind unglaublich müde und körperlich beansprucht. Ich habe große Hochachtung vor meinem Team. Die müssen wirklich kämpfen, es ist eine sehr schwierige Zeit.
Frage: Während der Pandemie wurde immer wieder mehr Wertschätzung für Pflegekräfte gefordert. Wie würden Sie das beurteilen? Fühlen Sie sich und ihre Arbeit wertgeschätzt?
Herpel: Ich fühle mich schon lange nicht mehr wertgeschätzt. Ein Politiker hat einmal gesagt: "Pflegen kann jeder" - seitdem bin ich sauer. Ich denke nicht, dass die Politik wirklich versteht, worum es in der Pflege geht. Sonst wäre sicherlich einiges anderes gelaufen. Ähnlich ist es auch bei Patienten und Angehörigen: Viele wissen gar nicht, was bei der Pflege alles dahinter steckt. Dieses Nichtwissen ist ein ganz wesentlicher Punkt bei der mangelnden Wertschätzung. Wenn ich nicht weiß, was Pflege bedeutet, kann ich es auch nicht richtig würdigen. Meinen Mitarbeiterinnen rate ich dann immer, zu ihrer Professionalität zu stehen: Erklärt den Leuten, warum ihr so viel aufschreibt und warum eine sorgfältige Pflegeanamnese und Dokumentation so wichtig sind.
Frage: Am Anfang der Pandemie gab es vermehrt Solidaritätsbekundungen mit den Pflegekräften, meist in Form von Applaus aus Fenstern und von Balkonen. Wie ist das bei Ihnen angekommen?
Herpel: Nach allen Erfahrungen, wie sich die Pandemie weiter gestaltet hat und welche Erfahrungen wir seitdem sammeln mussten würde ich ehrlich sagen: Liebe Leute - ich brauche euer Klatschen nicht.
Frage: Wieso?
Herpel: Zum einen sind uns viele Aufgaben einfach übergestülpt worden. Zum anderen sind wir in der Ambulanten Pflege für manche auch zum Blitzableiter geworden. Die Patienten haben Angst, sie sind verzweifelt und gereizt. Das bekommen dann unsere Mitarbeiter*innen ab. Die ambulante Pflege ist eine aufsuchende Form der Versorgung. Wir gehen zu den Menschen nach Hause. Dabei mussten wir schon erleben, dass Mitarbeiterinnen auf dem Weg als Virenschleudern beschimpft wurden. Man unterstellt uns, dass wir das Virus verbreiten würden. Trotz aller Vorsicht, Sensibilität und Professionalität. Auch böse Anrufe hatten wir schon. Es sind leider keine Einzelfälle. Die anfängliche Wertschätzung ist eher in das Gegenteil umgeschlagen. Und obwohl die zweite Welle die eigentlich schlimmere war, ist die öffentliche Wahrnehmung für die Situation in der Pflege stark abgeflacht.
Frage: Das stimmt: Es scheint, als sei der Begriff "Pflegenotstand" wieder komplett aus den Schlagzeilen verschwunden. Hat sich das Problem also gelöst?
Herpel: Wir haben den Pflegenotstand schon seit über 20 Jahren und wir haben das auch immer wieder signalisiert. Jetzt sind wir in einem Kollaps und haben überhaupt keine Kraft mehr, um noch großartig aufzubegehren. Daran trägt die Pflege auch eine gewisse Mitschuld. Wir haben uns schon immer schwer getan, unsere Profession und unsere Professionalität auch nach außen entsprechend darzustellen. Jetzt ist die Lage katastrophal und ich weiß nicht, wie sie noch schlimmer werden könnte. Das gilt auch für den Nachwuchs. Erst kürzlich war in der Fachpresse zu lesen, dass die Abbruchquote bei Auszubildenden in der Pflege extrem hoch ist: 28 Prozent der Auszubildenden hören wieder auf.
Frage: Woran könnte das Ihrer Meinung nach liegen? Ist die Bezahlung hier ein Problem?
Herpel: Für unsere Einrichtung kann ich sagen, dass die Caritas ein guter Arbeitgeber ist. Grundsätzlich gibt es neben der Bezahlung aber auch andere Rahmenbedingungen, die den Beschäftigten in der Pflege wichtig wären. Und bei den Auszubildenden scheint es leider immer wieder auch Einrichtungen zu geben, die die jungen Leute als vollwertige Arbeitskräfte einsetzen. Das darf nicht sein: So vergraulen wir uns unseren Nachwuchs.
Frage: Wie könnte man mehr junge Menschen für einen Beruf in der Pflege begeistern?
Herpel: Vor allem in dem man ihnen die Wahrheit darüber sagt, was dieser Beruf bedeutet und welche Verantwortung dahinter steckt. Ohne Fisimatenten. Bei den Arbeitsbedingungen könnte man vielleicht mit mehr Urlaubstagen oder einem früheren Renteneinstieg Anreize schaffen. Womit wir aber aufhören müssen, ist zu versuchen, Aussteiger aus anderen in die Pflege zu holen weil gerade Notstand ist und, nach Aussage der Politik, jeder pflegen könne. Das bringt nichts und macht auf Dauer mehr kaputt.
Frage: Haben Sie auch einen Vorschlag, wie sich die Wertschätzung für Pflegeberufe positiv ändern könnte?
Herpel: Um wirklich eine bessere Wertschätzung gewinnen zu können wäre es notwendig, die pathologische Bürokratie abzuschaffen. Auch eine bessere Kooperation mit Ärzt*innen, Praxen und Kassen wäre wünschenswert. Es ist zum Beispiel keine Wertschätzung, wenn meine Mitarbeiterinnen in eine Praxis gehen um eine neue Verordnung für einen Patienten abzuholen und dort stehen gelassen werden und lange warten müssen. Die Kassen mit ihren andauernden Bescheidungen erschweren unsere Arbeit zusätzlich. Für die Wundversorgung müssen wir inzwischen alle vier Wochen eine neue Verordnung holen. Es ist unglaublich, was uns da aufgebürdet wird. Besonders schlimm ist der MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) mit seiner großen Bürokratie - solche Vorgaben braucht wirklich niemand.
Frage: Gibt es etwas, dass wir aus der Pandemie für die Zukunft der Pflege lernen können?
Herpel: Was ich persönlich aus der Pandemie mitnehme ist das Nutzen digitaler Wege. Natürlich ist eine Teamsitzung von Angesicht zu Angesicht etwas anderes als eine Videokonferenz. Aber es ist ein Weg, den man gehen kann. Auch wenn die Verbindung manchmal nicht funktioniert.
Frage: Wie sehen Sie den Einsatz digitaler Hilfsmittel in der ambulanten Pflege allgemein?
Herpel: Es ist sicherlich sinnvoll in Zukunft darauf umzustellen, allerdings noch nicht jetzt. Wir haben hier im ländlichen Raum immer noch große Funklöcher. Da müsste erst einmal die Versorgung verbessert werden.
Frage: Sie haben drei Wünsche frei: Was sollte sich sofort in der Pflege ändern?
Herpel: Die Rahmenbedingungen für Beschäftigte in der Pflege müssen schleunigst verbessert werden. Eine andere Wahrnehmung von Pflege in der Gesellschaft. Und irgendwie ganz schnell vom Himmel geschickt mehr Krankenschwestern und Pfleger.
Frage: Nach allem, was wir gehört haben: Würden Sie sich heute noch einmal für eine Karriere in der Pflege entscheiden?
Herpel: Wenn sich die Rahmenbedingungen ändern auf jeden Fall. Es ist mein Traumberuf gewesen. Ich habe mit 14 Jahren beschlossen: Ich werde Krankenschwester. Das habe ich nie bereut. Ich habe viele Erfahrungen gemacht, die ich nicht missen will. Aber wenn man heute junge Leute für diesen Beruf gewinnen will, muss man ihnen auch die Wahrheit darüber sagen und nicht etwas von Zuckerbrot erzählen, wo es gar kein Zuckerbrot gibt.